Sonntag, 29. März 2020

[Rezension] Das Schweigen des Sammlers




Titel:
Das Schweigen des Sammlers
Autor:
Jaume Cabré
Übersetzer:
Kirsten Brandt und Petra Zickmann

Verlag:
Insel Verlag Berlin
veröffentlicht:
München 2018
1. Auflage
Original :
Jo confesso, 2011
ISBN:
978-3-458-35926-5
Seiten:
850
Preis:
9,99€

Grober Inhalt:
Das Sprachgenie erzählt seine Geschichte zwischen Erwartungen der Eltern und seiner großen Liebe Sara.
Cover des Buches

Weißt du, es gibt Bücher, bei denen ist es egal, ob man sie gelesen hat oder nicht - und dann gibt es Bücher, die dein Leben verändern. Bücher, die sich mit ihren Worten in deine Seele brennen, oder die sich schleichend in deinen Gedanken absetzen; oder Bücher, die so selbstverständlich werden, dass du dir gar nicht mehr vorstellen kannst, sie irgendwann einmal noch nicht gelesen zu haben, weil sie so fest in dir verankert sind, dass man sich kaum noch eine Zeit vor ihnen vorstellen kann, so sehr gehören sie schon zu dir.

Und ich glaube, genau so ein Buch ist ›Das Schweigen des Sammlers‹. Ein Buch, das dich ergreift und nicht mehr loslassen wird.

Zugegeben, der Inhalt des Buchs ist nicht sonderlich spannend: Die Lebensgeschichte des Adriá Ardèvol, eines katalanischen Ideengeschichtlers, Sprachgenies und Geigenliebhabers. Um ehrlich zu sein, ist das Buch auch nicht sonderlich spannend - Es ist faszinierend. Und dafür gibt es mehrere Gründe.

Ein Grund ist tatsächlich Adriá Ardèvol - beziehungsweise die Art, wie dieser Adriá Ardèvol seine Welt sieht: Adriá Ardèvol ist ein Sammler. Er kauft alte Fundstücke und Manuskripte und hütet sie als seine Schätze; vor Allem aber liebt und lebt er ihre Geschichten. Die Erinnerungen seiner Sammlung sind das, was all diese toten Gegenstände so lebendig macht und was den Leser förmlich an das Buch fesselt: Immer wieder springt der Erzähler in den Erinnerungen zurück, pausiert für einen Moment die Handlung und verfolgt einen anderen Strang in der Vergangenheit. Innerhalb eines Absatzes wechselt man so von Barcelona des 20. Jahrhunderts zu einem Kloster von 1300 - und wieder zurück.

Was anfangs aber noch wie ein endloses Wirrwarr aus ungeordneten Ideen erscheint, fügt sich mit der Zeit zu einem komplexen Puzzel zusammen, in dem zwar nicht jeder mit jedem zutun hat, aber erstaunlich Vieles mit Adriá - und mit seiner Geige, Vial, die mindestens genauso heimtückisch ist wie die anderen Figuren des Buches.

Ein anderer Grund ist Jaume Cabrés einmaliger Schreibstil. Es gibt wenige Autoren, die so abwechslungsreich schreiben können - ohne dass es unangenehm ins Auge stechen würde. Es ist, als würde man alle Ideen eines ganzen Lebens zusammensammeln und zu einem, zu diesem Buch verschmelzen. Und wie im Leben einer wirklichen Person sind zwar nicht all diese Ideen in einem einheitlichen Stil, aber dennoch unverkennbar von ein und derselben Person erschaffen worden; die nicht Jaume Cabré heißt, sondern Adriá Ardèvol, so realistisch wirkt die Hauptfigur.

Der dritte Grund ist die faszinierende Authentizität, die Cabré in seinem Adriá erschafft; Manchmal glaubte ich fast, sein Leben an seiner Seite miterlebt zu haben. Auch, weil die Geschichte so lang ist, und gerade, weil es etwas verworren zu sein scheint.

Im Prinzip also das perfekte Buch für Realitätsflüchtlinge.

… im positiven Sinne, denn auf seine seltsame, besondere Art reißt dich ›Das Schweigen des Sammlers‹ einerseits in eine ganz andere Welt (oder besser: in ganz andere Welten), andererseits zeigt es dir auf bestürzende Art und Weise genau die Welt, in der du lebst. Das Leben eines Genies mitzuerleben, zeigt einem selbst, wie wenig man eigentlich kann; gleichzeitig deprimiert es aber nicht oder verärgert seine Leser mit Angeberei oder unrealistischen Anforderungen, sondern motiviert den Leser vielmehr, selbst etwas zu tun.

Adriá beschreibt sein Talent und Können nicht unbedingt als Naturtalent, er sieht es bis auf eine Ausnahme eher als Kombination aus Interesse und Übung.

Quasi als das, was jeder von uns haben kann, Wunderkind hin oder her.

Aber nicht nur sich selbst kann man in ›Das Schweigen des Sammlers‹ finden, sondern auch den eigenen historischen Kontext. Ironischerweise vor Allem in der deutschen Übersetzung, denn ein wichtiges Thema ist auch die NS-Diktatur mit all ihren Aus- und Mitläufern, denen Adriá immer wieder begegnet. Nicht aufdringlich, sondern einfach realistisch webt sich all das in den Text hinein. Weder belehrt er, noch schiebt er die Schuld von sich. Es wird als Teil der Geschichte betrachtet.

Als katastrophaler Teil, aber dennoch als Teil, den man nicht vom Rest absondern kann.


Wie du also wahrscheinlich bemerkst, mein Freund, kann ich dir dieses Buch nur wärmstens ans Herz legen. Es gibt wenige Werke, die so vielseitig sind und so umfangreiche Figuren erschaffen können - ohne dabei die Handlung zu vernachlässigen, oder, noch schlimmer, die Figuren unrealistisch wirken zu lassen. Natürlich muss man immer aufpassen, um bei den vielen Geschichten mitzukommen und nicht den Überblick zu verlieren, aber durch die Hilfe Adriás und Jaume Cabrés (sowie eines sehr hilfreichen Glossars), gelingt das, selbst wenn man längere Lesepausen macht. Um ehrlich zu sein, kann ich dir das sogar nur empfehlen, weil so der Inhalt besser in dein Leben schleichen kann…

Nun ja. Ich hoffe, du lässt dich nicht von den vielen Seiten abschrecken, denn dann findest du in Adriá Ardèvol mir Sicherheit einen Begleiter für lange Zeit; vielleicht sogar für dein Leben.

Und ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass dich dieser Begleiter vielleicht für immer verändern wird.





Wie auch immer.

Liebe Grüße!
Irving.

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