Titel:
Ich habe den Todesengel überlebt.
Ein Mengele-Opfer erzählt
Co-Autorin:
Lisa J. Buccieri
Übersetzerin:
Barbara Küper
Verlag:
Random House GmbH
veröffentlicht:
München 2012
12. Auflage
Original :
Suriving the Angel of Death.
The Story of a Mengele Twin in Auschwitz, 2009
Wenn man die NS-Diktatur anspricht, gibt es
prinzipiell genau vier mögliche Arten der Reaktion: einmal gibt es natürlich die
Leute, die genervt davon sind und das Thema wechseln wollen. Nicht zu
verwechseln sind diese Leute aber mit denen, die das Thema wechseln wollen,
weil sie zu entsetzt, schockiert und ergriffen worden sind. Und dann gibt es
die, die das alles als eine Art Hollywood-Attraktion sehen und unbedingt mehr
davon erfahren wollen, weil es ja so spannend sei und so unglaublich
ekelhaft-furchtbar-unglaublich, dass es manche Leute eben nur anziehen kann.
… und dann gibt es die, die einfach noch keine
Ahnung haben, weil sie entweder zu jung oder zu weltfremd dafür sind. Aber
trotz ihrer recht geringen Zahl unter unseren Lesern soll es heute genau um
diese letzten Leute gehen.
Kinder.
Zugegeben, ein etwas zwielichtiger Einstieg. Zu
meiner Verteidigung, bei der Frage ›wie bringe ich Kindern das Thema KZ
Auschwitz bei?‹ gibt es vermutlich nur zwielichtige Einstiege - die ungewollt
auch immer makaber werden, sobald man das Thema auf ausgerechnet den
›Todesengel‹ lenkt: auf Mengele, Dr. Josef Mengele, der KZ-›Arzt‹, der »wie ein
Filmstar« aussah (S. 64, Z. 25), und dessen Beschäftigung es war, verhungernden
Zwillingskindern Infusionen von Fleckenfieber zu geben, ihnen Chemikalien zu
spritzen oder sie einfach zu vergiften, um sie später aufschneiden und
obduzieren und mit dem anderen Zwilling vergleichen zu können. Wie bringt man
also Kindern bei, dass so etwas geschehen kann?
Genau, mit einem Buch. Genauer gesagt mit dem Buch ›Wie
ich den Todesengel überlebte‹, der Erzählung von Lisa Rojany Buccieri nach den
Erinnerungen von Eva Mozes Kor.
Wie bei den meisten Erfahrungsberichten handelt ein
Großteil des Buches davon, dass jemand - Eva, eine Zeitzeugin - von ihrem Leben
erzählt. Das heißt, nicht erst seit dem KZ Auschwitz, sondern auch von dem
Davor, von ihrer kurzen Schulzeit, von dem wachsenden Antisemitismus, von
Fluchtversuchen, Deportation, vom Getto. Und von dem Danach, von der Rettung,
den Zuständen danach, ihrem Leben danach. Aber natürlich auch von Mengele.
Und so schwer der Inhalt zu begreifen ist, so
einfach ist der Stil des Buches; es ist eben ein Buch für Kinder. Gleichzeitig
ist es aber auch ein Buch für jeden
außer
Kindern, bezogen auf das Verständnis, und ein Buch für alle,
egal welchen Alters; weil es zu
furchtbar ist, um vergessen zu werden - kurz, ungefähr ein Buch für Zwölf- bis
Fünfzehnjährige.
Der Stil ist dementsprechend, sagen wir, angepasst.
Ohne große Ausschweifungen, ohne besondere Formulierungen, ohne schwierige
Wörter, die nicht hinten in einem Register erklärt worden wären. Es liest sich
einfach und schnell, der Inhalt ist kurz und knapp dargestellt, mit Kommentaren
und Gefühlen natürlich, aber alles in allem relativ nüchtern. Gewaltszenen
werden nicht zu sehr ausgeführt, vor allem psychischen Terror beschreibt die
Zeitzeugin: Wie sich der Antisemitismus in ihrem Heimatdorf niederschlug, wie sie
irgendwann nicht mehr in die Schule gehen durften, für Dinge schuldig gemacht
wurden, an denen sie nicht schuld waren, wie ihr Haus besetzt wurde - kurz: wie
aus ihren ehemaligen Freunden und Bekannten Marionetten der NS-Ideologie
wurden.
Für jemanden, der sich explizit mit dem Thema Josef
Mengele auseinandersetzen möchte, würde ich das Buch allerdings nicht
empfehlen; Es sei denn, er ist zwölf bis fünfzehn Jahre alt. Tatsächlich ist es
zwar eine gute Erklärungslektüre für diese Zeit, die vor allem jüngere Jugendliche
lesen können, und wer sich nicht allzu sehr um den Schreibstil kümmert, wird
hier auch ein sehr gutes Buch mit furchtbarem Inhalt finden. Sonderlich tief
dringt man aber nicht in die Materie ein.
Ganz unabhängig davon möchte ich allerdings noch
einmal betonen, dass ein solches Buch immer größten Respekt verlangt. Wer auch
nur ein kleines bisschen Verstand in seinem Kopf und Gefühl in seinem Herz
besitzt, weiß, wie grausam, furchtbar, unvorstellbar, menschenverachtend,
unvertretbar, ekelerregend, widerlich, pervers und barbarisch das KZ
Auschwitz-Buchenwald war, und weiß, dass jeder, der diese Hölle auf Erden
überlebt hat, sein Leben lang darunter leiden wird. Und er weiß, dass es nichts
gibt, das so etwas unvergessen oder verzeihlich machen kann, und das bedeutet
auch, dass niemand, absolut
niemand,
behaupten kann, es sei nicht da oder gar ›gut‹ so gewesen - weil er damit all
denen, die um das blanke Überleben gekämpft haben und deren Leben grundlos zerstört
wurden, sagt, all das sei nur simuliert; und es gibt keine größere
Respektlosigkeit, als einem Opfer zu sagen, es sei der Täter.
Danke.